Kinostart: 22.08.2013
Der Argentinier Juan Solanas bringt südamerikanischen magischen Realismus in eine kühlblau temperierte „Metropolis“-Dystopie, die man getrost als Ausbeutungs- und Apartheids-Metapher auf Industrienationen und Entwicklungsländer lesen kann: Romeo & Julia aus haarscharf aneinander grenzenden Planeten überwinden mit ihrer Liebe Schwerkraft und Verbote. Die visuell phantastische SciFi-Romanze in einer märchenhaften Dark City ist der wohl erste 3D-Film seit „Avatar“, bei dem raumtiefe Bilder wirklich Sinn machen und ein schwindelerregendes Erlebnis erzeugen, das einem buchstäblich den Kopf verdreht.
In Kanada entstanden mit französischem Geld für 60 Millionen Schauwerte, die eine konventionelle Story mit sehenswerten CGI-Landschaften und komplizierten Regeln ausstatten. Alles, was von seiner Welt stammt, wird ausschließlich von der jeweiligen Schwerkraft angezogen, was viele lustige Unfälle verursacht, tiefe Stürze durch Wolkenschichten und schwebende Umarmungen, bei denen sich Gewichte gegenseitig aufheben. Obwohl der Gesang von den Wundern und Mysterien des Universums von einem Sonnensystem mit Doppelgravitation handelt, sind die völlig inkohärente Physik und Science Fiction nur Camouflage für eine reine Fantasy-Lovestory samt politischer Parabel auf die Auswirkungen des ökonomischen Neokolonialismus.
Adam und Eden also treffen sich als unschuldige Teenies, er kommt aus Down Below, dem schmutzig-zerstörten Krisengebiet, sie aus Up Top, einer nicht minder schaurigen Hochglanz-Konsumwelt. So als würden sich die finsteren Ruinen von Mogadischu und das Lichtermeer von New York wie in „Inception“ Kopf an Kopf gegenüberstehen, separiert durch eine Meile Luft, Gesetze und Mauerschützen. Einzig verbunden sind sie durch den Büroturm des Transworld-Konzerns, in dem die reichen Kapitalisten die armen Schlucker schröpfen, in dem sie Rohstoffe und Ideen absaugen. Auch Adam wird, nachdem er Eden verloren hat, die an Amnesie Leidende viele Jahre später nur wiedersehen, weil er die Formel seiner Wunder-Erfindung herausrückt.
Wie beide diese Welt verändern, ist ein schönes Märchen, dass trotz nicht nur optischer „Brazil“-Düsternis Hoffnung auf Veränderung wahrt. Nur die Chemie zwischen Spider Mans Muse Kirsten Dunst, deren Attraktivität langsam verblasst, und dem etwas ungeschickt-naiven Kasperl Jim Sturgess („Cloud Atlas“) bleibt blass und die Emotionen unterkühlt. Interessanter sind da Nebenfiguren, vor allem Timothy Spall, der Wurmschwanz aus der Harry-Potter-Reihe, den arrogante Vorgesetzte wegrationalisieren und dessen Erfindergeist das Pärchen wieder zusammenbringt.
Zudem passt der gesamte Rest, womit vor allem die grandiosen Panoramen, die sich aus Steampunk-Dekor (das Luftschiff-Gerippe erinnert an Miyazaki-Animés), südamerikanischer Architektur (wie das Café Dos Mundos), aseptischen Wallstreet-Großraumbüros, verfallener Bauwerke im Look von Havanna und wie mit Acryl und Airbrush gezeichneter, traumhafter Berggipfel in digitalem Eis und Mondscheinnächten zusammensetzt. International und eklektizistisch, wunderbar amalgamiert.
Und politisch unterfüttert: Man spürt die negativen Erfahrungen Argentiniens mit Staatsbankrotten und Ausbeuterkonzernen, sowie die Woge sozialer Selbstermächtigung gegen Turbokapitalisten. Kreativität entsteht in kleinen, menschlichen Zirkeln von Garagentüftlern und das ist auch die Rettung dieser ungerechten Großkonzernwelt, die nur Verbote, Brutalität und Raub kennt. Besetzt die Fabriken – und Occupy Wall Street, so die Message. Nur Klischees, allesamt? Von mir aus. Aber herzerwärmend sympathisch und die reinste Augenweide.
Erschienen in Splatting Image 95, September 2013