Das große Heft

Nihilistische Gesellschafts-Parabel mit surrealen Zügen über Zwillinge, die während des Weltkriegs Menschlichkeit und Moral verlieren.

Das große Heft Cover

A nagy füzet, János Szász, D/HU 2013
Kinostart: 17.10.2013, DVD/BD-Start: 09.05.2014
Story: Im Herbst 1944 soll ihre bis dato ihnen unbekannte Großmutter zwei 13-jährige, namenlose Zwillinge auf ihrer grenznahen, ärmlichen Hütte verstecken. Die hartherzige Patrone schimpft sie Hundesöhne und lässt sie schwer arbeiten. Von ihr und dem ganzen Dorf geprügelt, härten beide zu grausamen Jungs aus.
Von Thorsten Krüger

Eine Kindheit im Krieg, einschließlich der Erziehung zu Gewalt und Grausamkeit erzählt der Gewinner von Karlovy Vary und Ungarns Oscarbeitrag 2014. Den 1986 erschienenen, preisgekrönten Roman von Agota Kristof hat János Szász („Opium: Tagebuch einer Verrückten“) zu einer Arthaus-Geschichte von Amoral und Nihilismus geformt. Mit einem Hauch Béla Tarr.

Zwischen Drama vor Kriegshintergrund, Parabel über Entmenschlichung und conte cruel siedelt das eigenwillige Werk, das sowohl an „Das weiße Band“ (derselbe Kameramann) gemahnt, als auch mit einem homoerotisch angehauchten SS-Offizier (nach „Opium“ erneut dabei: Ulrich Thomsen) an „Der Nachtportier“; ferner im permanenten Bruch der Gebote an Kieslowskis „Dekalog“ und in seiner unzugänglichen, deprimierenden Hermetik an den jüngst verstorbenen Aleksei Balabanow („Cargo 200“).

Sie wollen Übermenschen werden und bleiben Elendsgestalten

Mit seinem schauerromantischen Zwillingsmotiv konzentriert sich Szász auf zwei Kinder, deren Übungen zur Abhärtung von Körper und Seele zur Enzyklopädie der Grausamkeit auswachsen. In einer Atmosphäre von Fremdheit und Befremdung, die jedoch nie entschieden verdichtet wird, erleben sie Folter, Kindesmissbrauch und die Qualen eines strengen Kriegswinters. Sie wollen den Schmerz besiegen.

Kein Wunder, dass der SS-Lagerkommandant, der ausgerechnet als einziger seine schützende Hand über sie hält und sie nicht misshandelt, von ihnen fasziniert ist. Übermenschen wollen sie werden und bleiben doch Elendsgestalten. Sie bezeugen den moralisch-menschlichen Bankrott ihrer Welt, wo Judenfeindlichkeit abstoßende Blüten treibt und die Krematorien der Lager qualmen, oft als Zeichnung dargestellt. Das hat „Der Junge im gestreiften Pyjama“ keine Sekunde so hinbekommen.

Die Dramaturgie bleibt träge und sperrig

Zwar erlaubt das begrenzte Budget nur wenige Effekte (und die sind schlecht), außerdem bleibt die Dramaturgie träge und sperrig ohne jemals Fahrt aufzunehmen. Und in all der Niedertracht finden sich nur abstoßende Gestalten, aber niemand zum identifizieren. Oft fragt man sich, was die Etüde in Sadismus eigentlich soll – Szász liefert darauf keine klare Antwort.

Aber seine merkwürdige Fabel ist klasse gespielt (darunter ein struppiger Ulrich Matthes als Vater), verströmt sein eigenartig-irrationales Flair und ist wie ein unheimlicher Bruder des schockierenden polnischen Kriegsfolgendramas „Rose“, wo die Angst vor den marodierenden und vergewaltigenden Russen ebenfalls alles übertrifft. Es hätte ein großartiger Film werden können, so ist die gespreizte Kunstware immerhin ein interessanter.

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