Kinostart: 05.06.2014, DVD/BD-Start: 06.11.2014
Von 2002 bis 2013 verfolgte Indie-Urgestein Linklater ein cineastisches Experiment: In einer Langzeitbeobachtung, wie man sie sonst nur aus Dokumentarfilmen wie „Die Kinder von Golzow“ kennt, sah er 12 Jahre denselben Darstellern zu, wie sie heranreiften (seine Tochter Lorelei, Ellar Coltrane) und älter wurden (Patricia Arquette, Ethan Hawke) – die berührende Beobachtung einer prototypischen Patchwork-Familie.
Ein waghalsiges Konzept, das jenes seiner „Before Sunrise“-Trilogie (ebenfalls mit Hawke) noch übertrifft. So kann er auf ungemein authentische, dabei sagenhaft leichte Art seinem Hauptdarsteller von der Kindheit bis zum College-Eintritt folgen und, obschon fiktiv, immens natürlich die Lebenswege der engsten Verwandtschaft nachzeichnen – eine Americana, die sich satte Scheiben aus dem wahren Leben herausschneidet.
Was „The Tree of Life“ mit Pathos versucht, gelingt Linklater mit Bescheidenheit und dem mutigen Verzicht auf Plotpoints. Im Unspektakulären liegt die Kraft einer reichen Fülle (Alltags)Erlebnisse eines trotzdem nie überladenen Coming of Age. Der Längsschnitt eines Lebens ist auch ein Kulturquerschnitt (Zeitgeschehen und Popkultur blitzen immer wieder auf) – ein Film über alles, was man kennt. Aber nicht, wie man es kennt.
Stets aus der Perspektive von Mason gelingt es Linklater bisweilen simultan Freude und Sorgen, angenehme und unangenehme Zeiten einzufangen, darunter elterliche Trennungen und die schlechte mütterliche Partnerwahl. Jeder hat seine Limitierungen, seine Vorzüge wie Problemzonen. Aber die Regie blickt mit solch entspannter Wärme auf diese vier Menschen, dass man sie in die Arme schließen mag.
Die Kinder wachsen heran und ans Herz, vor dem Hintergrund wechselnder Ehekrisen: Der eher verzagt-sensible Mason, die selbstbewusste Samantha, die als herrlich altkluges Früchtchen punktet (und im Lauf der 164 Minuten leider immer mehr zur Nebenfigur wird), die überforderte Mutter, die immer wieder die gleichen Fehler (vor allem bei Männern) begeht, der coole Musikerdaddy, der reifer wird und neu heiratet.
Ausgewogen humorvoll wie ernst zeigt Linklater ihre teilweise wunderbar komischen, mitunter auch beklemmenden Augenblicke (der aggressive Stiefvater etwa), beherrscht leise Momente ebenso wie immer wieder offene und ehrliche Gespräche. Manchmal droht sich das zu verlieren, hat auch Längen, findet aber in beiläufigen „Dazed and Confused“-Fragen um Lebenssinn, Individualität, Einzigartigkeit und Selbstfindung seine Mitte.
Dies kreist viel um Verantwortung, auch bei zwei Erwachsenen, die versuchen gute Eltern zu sein. Wenn Hawke sagt, „I wish I were a better parent for you kids“ und Arquette ihre „poor life decisions“ bedauert, liegt darin entwaffnende Aufrichtigkeit. Als sie beim Abschied heult, „I just thought, there would be more“ – sie meint das Leben -, berührt dies auf elementarer Ebene. Zumal wir das alles im Zeitraffer erlebt haben.
Kinder aufziehen und sie dann ziehen zu lassen – das kommt an die emotionale Wucht eines „Ame & Yuki“ heran. Und ist doch nur eine Facette von 12 Jahre komprimierter Lebensgeschichte, wo sich im Umschnitt Menschen äußerlich und innerlich verändern, dass es einen gruseln kann. Alles wandelt sich und das so unheimlich schnell, das am Ende die Kardinalfrage im Raum steht, was man mitnimmt – und was zurückbleibt.
Dank Daseins-Reflexionen („Look at all this people. What are we even doing here?“) und unprätentiösen Sinnfragen („What’s the point of all this?“ – „Nobody knows!“) steckt mehr Philosophie und Lebensweisheit drin, als man unberührt übersteht. Und dann ist dieses Zeitenlaufdrama auch noch die Apotheose des Augenblicks: „It’s not us who cease the moment. The moment ceases us. It’s always right now“ – ergreifend und brillant.
Die Welt braucht mehr Filme wie „Boyhood“. Und weniger wie „The Amazing Spider-Man 2“.