Das radikal Böse

Mord als Fließbandarbeit: Brillanter, schauderhafter Essay über die psychosozialen Grundlagen des Völkermords.

Das radikal Böse Cover

Stefan Ruzowitzky, D/AU 2013
Kinostart: 16.01.2014
Story: Während Hitlers Russlandfeldzugs gingen Sondereinsatzkommandos im Rücken der Front von Dorf zu Dorf, um auf den Killing Fields Osteuropas systematisch Juden zu erschießen. Junge Soldaten nahmen freiwillig an den Massenmorden an Zivilisten teil, die übrigen Anwohner beobachteten die Verbrechen.
Von Jochen Plinganz

Stefan Ruzowitzky, der sich seinen Auslandsoscar für „Die Fälscher“ redlich verdiente, schließt in einem Doku-Essay qualitativ direkt daran an. Sachlich und fundiert untersucht er die geistig-gesellschaftlichen Elemente, deren Zusammenwirken den Holocaust im Zweiten Weltkrieg ermöglichte. Eine so wissenschaftliche wie persönlich-nahe Studie mit schauerlicher Erkenntnis: Das radikal Böse steckt in uns allen.

Der von Hannah Arendt entlehnte Titel, der auf ganz normale Menschen wie du und ich hinweist, sowie ein Zitat von Primo Levi geben die intellektuelle Intensität vor, mit der sich dieser Blick ganz tief in das Wesen des Menschen und seine Fähigkeit, alles zu tun, jede zivilisatorische Schranke einzureißen, in den Betrachter eingräbt. Klug gewählte stilistische Besonderheiten verdichten die Denkanstöße von Experten.

Gegenwart des Grauens

Ausschließlich aus Tätersicht schildert Ruzowitzky phänomenal, was das Morden Wehrloser bei den Schützen auslöst, wie Erschütterung und Entsetzen regieren, Gruppendruck, Propaganda und autoritäre Strukturen normalisieren. Die im Splitscreen eingeblendeten Soldatengesichter veranschaulichen die Situation so brillant, aufschlussreich – und so beunruhigend wie Patrick Pulsingesr Elektroscore -, wie ihre aus dem Off von prominenten deutschen Akteuren wie Benno Fürmann eingesprochenen, Myriaden Gedanken. Ein Horror-Hörspiel.

Diese basieren auf Briefen, Tagebüchern und Vernehmungsprotokollen, ermöglichen mit Wochenschaumaterial und privaten Farbfilmaufnahmen eine Gegenwart des Grauens: Die Auslöschung von Jiddischland, dem Zentrum der europäischen Juden. Anhand dessen verkünden klassische psychologische Experimente sowie Interviews mit Genozidforschern, Historikern und Psychologen ungeschminkte Wahrheiten über uns Menschen.

Öffnet die Augen für das permanente Versagen der Menschheit

Denn das Gesamtbild lässt erschaudern: Wie leicht formbar und gedankenlos junge Männer sind, um das zu tun, was sie für das Wohl der Allgemeinheit für notwendig halten. Wie Völkermord ein politisches Konzept auf Basis von Rassismus und Institutionen ist. Das öffnet die Augen für das permanente Versagen der Menschheit und heutiger Genozide. Die unbequeme Aussage: Das Böse ist unser Potenzial, das sich ausformen kann – aber nicht muss. Widerstand ist möglich.

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