Kinostart: 10.07.2014, DVD/BD-Start: 26.11.2014
Für sein englischsprachiges Heimatmärchen hat sich der französische Regiezauberer Jean-Pierre Jeunet das verschrobene Buchdebüt von 2009 des Brooklyner Literaturshootingstars Reif Larsen ausgesucht. In gewohnt magisch-poetischem Realismus spinnt Jeunet zwölf Jahre nach „Die fabelhafte Welt der Amélie“ in dessen Façon eine verschrobene 3D-Familientragikomödie, die mit Detailversessenheit und Sentimentalität beglückt.
Hinter den vergnüglichen Reiseabenteuer eines Mini-Genies durch ein malerisches Retro-Amerika (obschon in der Gegenwart spielend) verbirgt sich eine Suche nach Erlösung von Schuld und Trauer um den ihm als imaginären Ratgeber zur Seite stehenden Zwillingsbruder, der bei einem Unfall mit Schusswaffen in T.S.’ Anwesenheit ums Leben kam. Dieses lange nur Andeutung bleibende Trauma hat die Familie im Innersten zerrissen.
Die ebenso hochintelligente Forschermutter (Tim Burtons Muse Helena Bonham Carter) hat sich zurückgezogen, der 100 Jahre zu spät geborene Cowboy-Vater (Billy-Bob-Thornton-Look-Alike: Callum Keith Rennie) in den Whisky und die ältere Schwester (Niamh Wilson) in dümmliche Starruhmfantasien geflüchtet. Sie harren der Wiedervereinigung als Familiennukleus, was anrührend, aber kitschfrei gelingt.
Davor allerdings dichtet Jeunet eine durch und durch pittoreske Ode an ein ländliches Paradies, eine aus Grashügeln und sonnigen Weiden bestehende Tom-Saywer-Naturidylle unter weitem Himmel. Die in Kanada entstandene Wunschvision Amerikas zeigt ein idealisiert-ikonisches Traumland mit einem Lebensstil wie von Norman Rockwell gezeichnet: Grandiose Postkartenansichten eines ganzen National-Geographic-Jahrgangs.
In dieser leuchtfarbenen Liebeserklärung an die nordamerikanische Natur darf sich eine hübsch verschrobene Familie ausbreiten, die so kauzig und schrullig wie bei Wes Anderson ausfällt. Aber wo sich „Moonrise Kingdom“ mit Absurditäten begnügt, erzählt Jeunet die Bildungsreise eines Dreikäsehochs, dessen nützlicher Da-Vinci-Erfindergeist ebenso wie seine Sehnsucht nach Liebe von allen Erwachsenen ignoriert wird.
Auf Augenhöhe beschreibt Jeunet seine Welt, visualisiert Abbildungen, Zeichnungen und Skizzen liebevoll in genuinem 3D, wählt aber keinen Kinderfilm, sondern einen optimistisch-märchenhaften Ansatz, kombiniert mit etwas französischem Surrealismus: In einem Wohnwagen auf einem Güterzug versteckt, reist T.S. bis nach Washington; nur um dort als Sensation von einer Schreckschraube und dem Fernsehen ausgebeutet zu werden.
Bemerkenswert, dass dem stillen Güterzug-Tramp dabei nur ein Hobo wie aus einem Zeichenbuch (Auftritt von Jeunets Regular Dominique Pinon) und ein tätowierter Trucker helfen: Polizei, offizielle Behörden, Amtsträger und Medien hingegen jagen ihn oder beuten ihn rücksichtslos aus. Wie in „Micmacs“ hat sich Jeunet ein Herz für Proletarier und Außenseiter bewahrt, wozu die kernige Landlust- und Eisenbahner-Romantik passt.
Daneben schlagen zwei weitere Faktoren durch: Jeunets in wie immer in vorzüglicher Mise-en-scène drapierte Sammler-Vorliebe für alte Gerätschaften, Holzmobilar und Trouvaillen – sowie die positive Haltung. Mit ein paar Faustschlägen bekennen sich seine Eltern zu T.S. und befreien ihn aus dem satirisch überzeichneten Griff von Zynikern, um als Familie wieder in vertrauter Umgebung in Montana zu sich zu finden.
Seit sich ihre Wege nach dem Fantasy-Dyptichon „Delicatessen“ und „Die Stadt der verlorenen Kinder“ trennten, hat sich Jeunet als Kreativkopf erwiesen, der eigene (Stil)Universen erschafft, während sein Gefährte Marc Caro nur noch sporadisch Bedeutungsloses („Dante 01“) dreht. Der relativ misslungene „Micmacs“ ist vergessen, das schillernde Wunderkind-Railmovie vielleicht nicht so fabelhaft wie „Amélie“ – aber nahe dran.
Ein Gedanke zu „Die Karte meiner Träume“